„Beratung“ bei christlichen AbtreibungsgegnerInnen – Ein Erfahrungsbericht

Kritische Medizin München, Januar 2021

Mittels einer Fake-Identity lasse ich mich online bei einer bekannten christlichen Beratungsstelle hinsichtlich eines Schwangerschaftsabbruchs beraten. Das Gespräch ist geprägt von emotionaler Übergriffigkeit, Manipulation und versteckter Ideologie.

Teil 1: Kontaktaufnahme

Gleich das dritte Suchergebnis einer Google-Anfrage mit dem Begriff „Schwangerschaftsabbruch“ führt auf die Seite einer mittlerweile viel kritisierten Beratungsorganisation von selbsternannten „Lebensschützer:innen“, die in ihrer Namensgebung nicht zufällig mit einer bekannten staatlichen Beratungsorganisation verwechselbar ist. Ziel dieser Stelle ist es, durch geschultes Personal Menschen im Schwangerschaftskonflikt davon zu überzeugen, die Schwangerschaft zu erhalten.

Manipulation und Geldangebote an die schwangere Person sind in der spendenfinanzierten Organisation daher probate Mittel, die dazu führten, dass sie in der Vergangenheit bereits des Öfteren von verschiedenen Medienvertreter:innen untersucht wurde. Im öffentlich zugänglichen Jahresbericht von 2015 der Mutterorganisation 1000plus rühmt man sich mit einer hohen Suchmaschinenoptimierung, die dafür sorgt, dass ungewollt Schwangere innerhalb kürzester Zeit auf beschriebener Website landen. Im Jahr 2015 verzeichneten sie 1.230 direkt-Beratungsfälle, davon wohl über ein Viertel minderjährige Personen.

Um mehr zu dieser Organisation und ihren Arbeitsmethoden in der Beratung zu erfahren, startete ich eine E-Mail-Konsultation unter falschem Namen und Mail-Account. Die Seite, die zuerst so professionell und einfühlsam in dezenten Weiß-, Lindgrün- und Grautönen erscheint, wirkt schnell bei genauerer Betrachtung wie der schlechte Abklatsch einer Teenie-Zeitschrift. Prominent zu sehen ist der Menü-Punkt „Teste Dich“. Hier findet sich ein Sammelsurium an Befragungen, deren Aussagekraft stark zweifehaft ist: über „Abtreibungskostenrechner“, „Online-Schwangerschaftstest“, oder dem „Tox-Test“ zur Abklärung der Kindsgesundheit, gelange ich zum „Abtreibungstest“: „Wir beraten, Du entscheidest – 100% individuell“. Verheißungsvoll heißt es nun auf der Testseite, dass ich in dieser herausfordernden Situation hier genau richtig sei. Wir werden sehen…

Gemeinsam mit Freund:innen erstelle ich anhand der Fragen das Profil einer jungen Studentin: „Lucy“ ist zwischen 20 und 30 Jahre alt und hat vor zwei Tagen per Drogerie-Test von ihrer Schwangerschaft erfahren, ist somit ca. in der 4. Schwangerschaftswoche. Das alles kam für sie sehr überraschend. Sie ist stark verunsichert, der Zeitpunkt passt gerade überhaupt nicht. Um das Klischee, das auf der Website über Männer aufgebaut wird, zu bedienen, hat Lucy außerdem Angst, von ihrem Partner verlassen zu werden, sobald er von der Schwangerschaft erfährt. Ihre Kindheit verlief nicht optimal, sie habe sich in ihrer dauerhaft gestressten Familie oft nicht willkommen gefühlt und habe die Befürchtung, keine gute Mutter sein zu können, obwohl sie im Zusammensein mit intakten Familien auch ein positives Grundgefühl verspüre (Dieser Satz wird von der Beraterin noch öfter aufgegriffen).

Teil II: Eine erste Antwort

Am nächsten Abend hat sich bereits eine Beraterin gemeldet und bedankt sich für mein Vertrauen. Lucy äußerte im Test, dass sie unsicher sei, wie sie sich entscheiden solle. Die Beraterin vermutet „es habe mir den Boden unter den Füßen weggezogen“, da sei es nur nachvollziehbar, wenn mich jetzt die unterschiedlichsten Aspekte beunruhigen würden. „Auf der anderen Seite ahnen Sie möglicherweise aber, dass eine Abtreibung Sie belasten könnte, wenn dieser Schritt nicht ihrem tiefsten Inneren entspricht. Herz und Verstand scheinen nun miteinander zu ringen. Empfinden Sie es so?“ Neutral wirkt diese Beratung ab dem ersten Satz eindeutig nicht.

Nach dieser vielen Unsachlichkeit wird mir kurz erklärt, dass mir der Gesetzgeber Zeit für eine Entscheidung bis zur 12. Woche nach der Befruchtung gibt. Ausgelassen werden jedoch relevante Informationen, beispielsweise, dass ich dafür einen Beratungsschein einer staatlichen Stelle brauche und diese Stelle mir keinen ausstellen kann (steht stattdessen winzig im Kleingedruckten der E-Mail-Signatur), dass ich danach eine dreitägige Bedenkzeit laut Gesetz einzuhalten habe, bis ich den Abbruch vornehmen lasse und außerdem, welche Ärzt*innen und Kliniken in meiner Nähe überhaupt Abbrüche anbieten. Wieviel mich der Abbruch kosten würde und ob die Krankenkasse eventuell die Kosten übernehmen würde, wird auch nicht genannt.

Wer berät mich da eigentlich? Die christliche Organisation wirbt mit der professionellen Ausbildung ihrer Berater:innen in der „Logotherapie“ – einer in Deutschland vom „wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie“ nicht als Therapieform anerkannten Art der Gesprächsführung, deren Ziel es ist, Menschen bei der Sinnfindung zu helfen.

Es ist fraglich, inwieweit ein:e Berater:in, die:der mich persönlich nicht kennt und kein Anamnesegespräch mit mir führen konnte, Praktiken einer therapeutischen Gesprächsführung an dieser Stelle anbringen darf. Ausgebildete Psychotherapeut:innen sind nicht nur zu ausführlichen Anamnese und persönlichem Gespräch verpflichtet, sie sind sich außerdem der Gefahr bewusst, alte Traumata mit bestimmten Fragestellungen zu reaktivieren. Zusätzlich stellt sich doch außerdem die Frage: Warum eine therapeutische Gesprächsführung in einer Beratung überhaupt notwendig ist?

Teil III: Hilfsangebot

„Konnten Sie für sich schon mehr Klarheit finden und einen Schritt weiterkommen, oder ist gerade noch alles sehr durcheinander? Vermutlich handelt es sich um eine der schwierigsten Entscheidungen, die Sie jemals trafen – da dürfen Sie wirklich alles für sich in Anspruch nehmen, was Ihnen dazu verhilft, mit der Zeit einen Weg zu erkennen, mit dem sowohl Ihr Herz als auch Ihr Verstand übereinstimmen.“

Ich frage nach finanzieller Unterstützung. „Gerne helfe ich Ihnen dabei, jede Hürde, die Sie im Moment sehen, zu beleuchten und von der Stelle zu bewegen, damit für Sie allmählich ein passender Weg sichtbar wird. Die Lebensumstände können wir mit etwas Geduld und Ideenreichtum ändern, während unsere Herzensstimme ein Leben lang die gleiche bleibt. Können Sie in diesen Tagen wahrnehmen, was Letztere zu Ihnen spricht?“

Die Herzensstimme. Da ist sie wieder. Was eine Betroffene in diesem Moment braucht, sind klare Hilfsangebote, wie sie eine staatliche Stelle geben kann. Mir wird aber stattdessen suggeriert, dass ich im Falle einer Abtreibung lebenslang ein schlechtes Gewissen mit mir herumtragen werde und finanzielle Nöte nur ein marginales Problemchen sind.

Ich will herausfinden, wie denn die finanzielle Unterstützung durch die Organisation dennoch aussehen könnte und antworte, dass ich mich in der letzten Zeit mit meinen Gedanken zurückgezogen habe. Ich erläutere weiterhin meine großen finanziellen Sorgen und frage explizit nach einem bereits erwähnten Beratungsangebot. Außerdem erkläre ich, dass ich keine genaue Vorstellung zum Vorgang einer Abtreibung hätte und im Netz auf beängstigende Szenarien gestoßen sei, deren Wahrheitsgehalt ich nicht einschätzen könne.

Ich erhalte einen Link, der mich auf die Website der Organisation leitet. In zehn Schritten wird hier erklärt, was nötig sei, um eine Abtreibung vornehmen zu können. Immerhin wird in Schritt 5 erwähnt, dass eine Beratung und das Ausstellen eines Beratungsscheins einer staatlichen Stelle notwendig sind. In Schritt 8 wird allerdings nochmals darauf eingegangen, dass es nach dem Gespräch mit den durchführenden Ärzt:innen ratsam sei, sich nochmals Zeit für sich zu nehmen, um „Herz und Verstand zu befragen“ und abzuwägen, mit welchem Weg man „langfristig gesehen im Einklang“ sei. Als „wichtig“ wird hier fettgedruckt hervorgehoben, dass die betroffene Person bis zum letzten Moment die Freiheit habe, den Termin abzusagen, „Falls sich in Dir etwas regt, was Du noch gerne genauer anschauen würdest!“. Im 10. Schritt wird auf den Umgang mit der Entscheidung zum Abbruch eingegangen und auf das Forum verwiesen, in dem Frauen* von ihrer Abtreibung berichten. Hier finden sich überwiegend Foreneinträge, die von Bedauern und Trauer um den Fötus handeln.

Teil IV: Ich möchte einen Abbruch

Ich habe meinen Entschluss gefasst. Ich werde die Schwangerschaft abbrechen. Ich teile der Beraterin mit, dass ich mich mit meinem Partner und Freund:innen beraten hätte, alle Optionen abgeklärt hätte und zum Schluss gekommen sei, zu diesem Zeitpunkt kein Kind haben zu können, auch wenn mein Partner positiv reagiert hätte. In den vorigen Mails hatte ich außerdem berichtet, dass mich meine Gynäkologin bestens aufgeklärt habe und ich jetzt ein differenzierteres Bild vom Abbruch hätte, das habe mir die Angst genommen.

Dafür, dass diese Entscheidung seitens der Beratung noch zuvor als lebensverändernd eingestuft wurde, wird meine Nachricht recht flapsig beantwortet: „Danke für […] und ihr kleines, ehrliches und nachdenkliches Update.“

Weiter schreibt sie, dass das Vertrauen meines Partners meiner eigenen Selbsteinschätzung, ich sei momentan wenig belastbar, entgegenstehe. Nicht nur, dass meine Entscheidung komplett ignoriert wird – jetzt werden Zweifel an meiner Wahrnehmung geweckt. Diese Formulierungen können eine tatsächlich betroffene Person in psychische Ausnahmesituationen treiben. Da ich es hier mit geschultem Personal zu tun habe, kann ich mir sicher sein, dass diese Aussagen mit vollkommener Absicht und dem Ziel der Verunsicherung der Hilfesuchenden getätigt werden. Anstatt mir nötige Hilfsangebote zur psychischen Unterstützung weiterzuleiten, lenkt sie nun das Gespräch auf die Möglichkeit, mir Entlastung durch eine Tagesmutter oder Babysitter zu holen. „Dies schreibe ich Ihnen als Information für ihren Hinterkopf, falls Sie sich doch noch hin- und hergerissen fühlen sollten.“

Im Folgenden werden weiterhin meine Bedenken bestärkt, anstatt meine getroffene Entscheidung unterstützt: „Denn mit dem Szenario „Abtreibung“ konnten Sie sich vor kurzem [sic] ja auch noch nicht so richtig anfreunden. Liebe Lucy, ich stelle mir vor, dass das alles gerade nicht einfach ist für Sie. Haben Sie denn schon weitere Schritte eingeleitet? Dabei bleibt Ihnen letztlich immer noch die Gelegenheit, weiterhin in sich hineinzuhören [sic] und Ihre innersten Emotionen wahrzunehmen.“

Die nächste Mail meiner Berater:in trägt den Titel „Herzensstimme“. Es wird Mitleid bekundet, andererseits wird nachgefragt, was denn wohl meine Zweifel provoziert hätte und ob es jetzt nicht vielleicht gut wäre, diese wahrzunehmen? Ich werde aufgefordert zu beschreiben, was genau die Zweifel ausgelöst habe. „Womöglich meldet sich in Ihnen eine Stimme, mit der Sie so nicht gerechnet hatten? Das ist nicht selten so, dass sich angesichts einer Abtreibung noch eine Stimme aus unserem Inneren einschaltet. Manche Frauen sagen, es sei ihr Herz, das wie [sic] ein rotes Stopp-Schild hochhält und noch nach weiteren Lösungen sucht.“ In weiteren manipulativen Sätzen, meine Emotionen betreffend, wird weiterhin versucht, meine Zweifel zu bestärken.

Eine Strategie in dieser Organisation ist das Zeitschinden. Es wird weiterhin darauf eingegangen, dass ich vermutlich Zeitdruck verspüre und mir ja die „Zeit zwischen den Fingern“ zerrinne. „Sollten in Ihnen doch Zweifel herrschen, möchte ich Sie tatsächlich ermutigen, sich die Zeit zu nehmen, die Sie brauchen.“ Für den operativen Eingriff hätte ich noch genügend Zeit, für den medikamentösen Abbruch (bis Ende 9. SSW) würde es langsam knapp. „Vermutlich ist diese lange Bedenkzeit nicht umsonst so eingerichtet, weil es vielen Schwangeren so geht, dass sich ihre Einstellung mit der Zeit verändert.“

Ich schreibe, dass ich mir selbst noch drei Tage für eine endgültige Entscheidung gebe, da ich am Ende mit den Nerven sei. Wie zu erwarten, wird auf die entstehende Problematik nicht fachlich reagiert, ganz im Gegenteil: In den folgenden Zeilen wird mir suggeriert, dass ich angesichts einer ungewollten Schwangerschaft mich und meine Wünsche, meine Ziele und Zukunft hintenanstellen muss – der Liebe zum Kind wegen. „Manchmal bittet Liebe darum, unseren Wunsch nach Autonomie und nach Sicherheit ein Stückchen zur Seite zu schieben.“ „Du zuerst und dann auch ich!“. „Ihr Ringen um eine gute Entscheidung zeigt, dass ihnen [sic] die Liebe zu ihrem Kind nicht egal ist. Auch wenn es für Sie ein Prozess sein wird, in der Liebe zu ihrem Kind zu wachsen – ehrlich gesagt, ist es das für jeden Menschen – so ermutige ich Sie, der Spur der Liebe zu folgen.“

Kein Wort über Hilfsangebote, keine klare Benennung von möglichen Problemen. Eine unabhängige und klient:innenorientierte Beratung sieht anders aus.

Bezüglich meiner Zweifel an der Selbstwahrnehmung wird mir erklärt, dass Realität bedeute, sich Hilfe zu suchen und in Abhängigkeiten zu begeben. Ich könne in meinem Umfeld lernen, meine Realität anzunehmen, was konkret meint, ich solle mich ab jetzt an meine Abhängigkeit von anderen Menschen gewöhnen und die Dinge hinnehmen, wie sie sind. Nach dieser Nachricht beschließe ich, den Mailverkehr einzustellen. Ich erhalte noch zwei weitere Mails der Berater:innen, in denen sie sich nach mir und meiner Entscheidung erkundigen und dabei wieder Bezug auf meinen Fragebogen nehmen: „Ich hoffe sehr, dass Sie inzwischen erahnen können, wie es für Sie gut weitergehen kann, zur Stärkung eines positiven Grundgefühls (diesen Begriff hatten sie beim Ausfüllen ihres Tests damals verwendet).

Hier könnt ihr den vollständigen Text nachlesen.