Die antifeministische Ideologie der Anti-Choice-Bewegung

Die Anti-Choice-Bewegung definiert sich in erster Linie über das gemeinsame Anliegen des – wie sie es nennen – „Lebensschutzes“, welches sich im zentralen Ziel der Verunmöglichung oder gar des Verbots von Schwangerschaftsabbrüchen kristallisiert. Damit stellt sich die Anti-Choice-Bewegung grundsätzlich gegen das Entscheidungsrecht von Frauen und Menschen, die gebären können, über ihren eigenen Körper und ihr eigenes Leben zu bestimmen – eines der zentralen Ziele des Feminismus. Bereits hier wird sichtbar, dass die Anti-Choice-Bewegung als Teil des organisierten Antifeminismus zu betrachten ist – auch wenn sie darin eine Spezialbewegung darstellt, die nicht vollständig in diesem aufgeht (vgl. Achtelik 2018). Dieser Beitrag wird zeigen, dass es ihr um weit mehr geht, als das Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen.

„Da ihre Themenpalette jedoch weitaus mehr (meist) reaktionäre, autoritäre und antiemanzipatorische Positionierungen zu gesellschaftlichen und bioethischen Fragen umfasst, ist es zu kurz gegriffen, sie nur als Abtreibungsgegner*innen zu bezeichnen. Die Bewegung eint ein weit über diese Gegnerschaft hinaus weisendes konservatives bis extrem rechtes Weltbild.“ (Sanders et al. 2018, 8).

Da wir die Selbstbezeichnung der Anti-Choice-Bewegung nicht reproduzieren wollen, greifen wir aus Mangel an Alternativen vor allem auf den Begriff der (radikalen) AbtreibungsgegnerInnen zurück, mit dem Wissen, dass dieser die Bewegung nicht komplett treffend beschreibt. Ausführungen zu unserer Begriffsverwendung und wie wir gendern findet ihr in der Einleitung.

Das zentrale Anliegen – Der sog. „Lebensschutz“

„Wir gehen für das Lebensrecht aller Menschen auf die Straße und das beginnt eben mit der Empfängnis und endet mit dem natürlichen Ende. Und das ist eben nicht, dass der Mensch die Selbstbestimmung oder die Hoheit über sein Leben hat, sondern Gott und deswegen lehnen wir natürlich auch den assistierten Suizid ab.“ (Silja Fichtner vom Verein Stimme der Stillen beim Marsch fürs Leben 2021 gegenüber ideaHeute, gesendet 22.03.2021)

Die Anti-Choice-Szene hat zum „Kulturkampf“ aufgerufen.                                                    Credits: Lina Dahm

Die Anti-Choice-Bewegung stellt bei ihren Veröffentlichungen und Veranstaltungen das zentrale Ziel, Schwangerschaftsabbrüche zu verbieten und zu verunmöglichen, in den Vordergrund. Auch Silja Fichtner legt ihren Fokus in Interviews auf den sog. „Lebensschutz“. Im Kampf um dieses Ziel gibt sich die Bewegung dabei gerne überkonfessionell und überparteilich. In ihren Argumentationen wird jedoch deutlich, dass der Großteil der Aktiven dem christlich fundamentalistischen Spektrum zuzuordnen ist (vgl. Sanders et al. 2014, 6).

Eine der Hauptmotivationen für den angeblichen „Lebensschutz“ stellt die religiös begründete Überzeugung dar, dass das Leben vom Anfang bis zum natürlichen Ende von Gott bestimmt wird und der Mensch sich nicht durch sein Eingreifen über Gott stellen solle. Zentral hierfür ist der Glaube an eine Simultanbeseelung, bei der die sog. „Beseelung“ des Menschen durch Gott bereits bei der Verschmelzung von Samen und Eizelle stattfinde (vgl. Sanders et al. 2014, 16), wodurch ein Embryo mit einem geborenen Menschen gleichgesetzt wird. Diesem Glauben folgend, werden von der Anti-Choice-Bewegung meist auch Notfallverhütungsmethoden wie die Pille danach als „Frühabtreibung“ abgelehnt (vgl. Sanders et al. 2018, 40ff.). Hieraus leitet sich ab, dass ein Schwangerschaftsabbruch oder bereits die Verhinderung der Einnistung der befruchteten Eizelle als Tötung oder Mord eines ungeborenen Kindes definiert wird (vgl. Achtelik 2018, 128f.).

Neben der Ablehnung von Schwangerschaftsabbrüchen geht mit dieser Überzeugung auch die Ablehnung von Sterbehilfe – welche sie als „Euthanasie“ bezeichnen – einher. Vor allem in den letzten Jahren wurde das Themenspektrum weiter in Richtung Biopolitik erweitert. So beschreibt Kirsten Achtelik, dass die Anti-Choice-Bewegung sich jetzt auch neben der Ablehnung von Schwangerschaftsabbrüchen und Sterbehilfe, gegen Pränataldiagnostik (PND), Präimplantationsdiagnostik (PID), Embryonenforschung, selektive Schwangerschaftsabbrüche und Organspende positioniert, um eine breitere gesellschaftliche Akzeptanz zu erreichen (vgl. Achtelik 2017).

Der „Kulturkampf“ der Anti-Choice-Bewegung

In seinem Redebeitrag beim Münchner „Marsch fürs Leben“ startet Kristijan Aufiero von der „1000plus-Profemina gGmbH“ den Versuch, eine „Pro-Life-Bewegung“ ins Leben zu rufen.          Credits: Lina Dahm

Auch wenn die Ablehnung von Schwangerschaftsabbrüchen das Kernthema der Anti-Choice-Bewegung darstellt, war ihr Kampf – wie eingangs beschrieben – von Beginn an verknüpft mit einer Vielzahl an antiemanzipatorischen Positionierungen, die einem konservativen bis extrem rechten Weltbild entspringen. Der durch ihre „Problemanalysen“ skizzierte Gesellschaftsentwurf lässt sich als pro-christlich, anti-säkular und anti-modern einordnen (vgl. Sanders et al. 2014,6).

„Die Abtreibungskritik dient den christlich-fundamentalistischen Gruppen – die nahezu ausschließlich den Kern der Aktiven stellen – dabei immer als Ausgangspunkt für eine umfassende, generalisierende Kulturkritik an der heutigen postmodernen Gesellschaft“ (Sanders et al. 2014, 6).

Ihr Kampf gegen Schwangerschaftsabbrüche dient somit dazu, unterschiedliche gesellschaftliche Diskurse zu moralisieren, zu emotionalisieren und zuzuspitzen (vgl. Sanders et al. 2014, 6). Die Anti-Choice-Bewegung wähnt sich in einem sog. „Kulturkampf“, in dem sie behaupten, eine „Kultur des Lebens“ gegen eine „Kultur des Todes“ zu verteidigen (vgl. Achtelik 2018, 131). Diese Begriffe wurden 1995 durch Papst Johannes Paul II. eingeführt und sind seitdem nicht nur in der Anti-Choice-Bewegung verbreitet (vgl. Sanders et al. 2014, 19). Johannes Paul der II. beschrieb im Evangelium Vitae 1995 den „dramatischen Kampf zwischen der ‚Kultur des Lebens‘ und der ‚Kultur des Todes‘“, in dem eine „kulturelle Wende“ herbeigeführt werden müsse und eine „neue Kultur des Lebens“ aufgebaut werden solle. Diese von ihm propagierte „Kultur des Todes“ sei u.a. durch die „perversen Freiheitsvorstellungen“, zu denen auch das Recht auf Abtreibung, Kindstötung und „Euthanasie“ gehöre, gekennzeichnet und werde von „starken kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Strömungen“ der leistungsorientierten Gesellschaft gefördert. Die von Johannes Paul II. ausgeführten Argumentationen lassen sich heute bei radikalen AbtreibungsgegnerInnen zahlreich wiederfinden. So greift auch Kristijan Aufiero in seiner Rede beim „Münchner Marsch fürs Leben“ die sogenannte „Kultur des Lebens“ auf und ruft dazu auf, diese mittels einer gemeinsamen Bewegung zu verbreiten:

„Werdet Lifefluencer. Werdet hier und heute Botschafter für die Kultur des Lebens und zur Verkündigung des Evangeliums des Lebens. Wir werden euch begleiten und euch dabei unterstützen und gemeinsam eine Bewegung aufbauen und die Kultur dieser Zeit erneuern“ (Kristijan Aufiero, Rede beim Münchner Marsch fürs Leben 2023).

In seiner Rede zitiert er am Ende zudem einen Satz aus eben jenem Evangelikum Vitae von Johannes Paul II. und ruft nochmals dazu auf den „Kampf für diese neue Kultur des Lebens und der Wahrheit heute zu beginnen“. Das Verständnis der Anti-Choice-Bewegung, wie dieser sog. „Kulturkampf“ geführt werden soll, wird unter anderem auch bei einem Vortrag von Paul Cullen 2016 beim „Lebensrecht-Forum“ sehr deutlich:

„Wir müssen diesen Kulturkampf führen, nicht den politischen Kampf, weil Politik stromabwärts von Kultur liegt […] Wir sind im Recht. Unsere Gegner sind es nicht. Wir wollen daher nicht beschwichtigen, sondern polarisieren.“ (Paul Cullen, Vortrag beim Lebensrechtforum 2016).

Es wird deutlich, dass es bei diesem propagierten „Kulturkampf“ darum geht, kulturelle Hegemonie und gesellschaftliche Deutungshoheit zu erlangen. Eike Sanders, Ulli Jentsch und Felix Hansen arbeiten in ihrem Buch „Deutschland treibt sich ab“ vier Argumentationslinien des sog. „Kulturkampfes“ der Anti-Choice-Bewegung heraus, die im Buch „Kulturkampf und Gewissen“ von Eike Sanders, Kirsten Achtelik und Ulli Jentsch weiter ausgeführt werden. An diesen Argumentationslinien werden die ideologischen Elemente des Weltbilds der Anti-Choice-Bewegung sehr deutlich, weswegen wir diese im Folgenden zusammenfassend vorstellen wollen.

Verteidigung der angeblich „natürlichen“ zweigeschlechtlichen Ordnung und der Sexualmoral

Die antifeministische Publizistin Gabriele Kuby beim „Marsch fürs Leben“ in München.  Credits: Lina Dahm

„Ne Frau, die das [einen Schwangerschaftsabbruch] tut, ist ja ganz getrennt von sich. Die kann nicht mehr fühlen, wie kostbar es ist Frau zu sein.“ (Gabriele Kuby beim Münchner Marsch fürs Leben gegenüber Auf1)

Zentral für die Argumentation der Anti-Choice-Bewegung ist die Vorstellung einer „natürlichen“ Zweigeschlechtlichkeit verknüpft mit dem Bild der heterosexuellen Kleinfamilie als „einzig wahre Form“ von Familie und Partnerschaft. Mit der Vorstellung von zwei „natürlichen“ und von Grund auf unterschiedlichen Geschlechtern geht auch eine klare, vermeintlich „natürliche“ Rollenvorstellungen einher. So liegt es in der angeblichen „Natur“ der Frau, Mutter zu werden und Kinder bekommen zu wollen. Sehr deutlich wird diese Vorstellung zum Beispiel bei den jährlich beim „Münchner Marsch fürs Leben“ verwendeten Schildern mit der Aufschrift „Mutter werden – mehr Frau sein geht nicht“. Wie bei Gabriele Kubys Aussage oben sichtbar wird, schließt diese scheinbare Untrennbarkeit von Frau und Mutter, die Möglichkeit komplett aus, Frauen könnten sich „freiwillig“ gegen ein Kind entscheiden. Eine Frau muss in der Vorstellung der AbtreibungsgegnerInnen durch äußere Umstände oder den an der Schwangerschaft beteiligten Männern zur Abtreibung gezwungen oder gedrängt werden, da es überhaupt nicht möglich sei, dass sie sich selbst dafür entscheidet.

Dies bildet auch die Grundlage dafür, sich als frauenfreundlich zu inszenieren und für Frauenrechte, wie das Recht auf Leben der Mutterrolle einzutreten (vgl. Sanders et al. 2014, 22ff.). So solle die Frau selbstbestimmt entscheiden können, wodurch sie sich – in ihrer Vorstellung – immer für ein Kind entscheiden würde. So lassen sich auch auf etlichen Instagram-Kanälen wie BVL, ALfA oder JfdL Postings zum 8. März finden. Postings wie beispielsweise von „sundaysforlife“ mit „Frauenrechte beginnen im Mutterleib“ (Instagramkanal 08.03.23) oder von „ProLife Europe“ mit „Abortion is the ultimate exploitation of women“ (Instagramkanal 09.03.23) sind bezeichnend für diese Argumentation. Männer stehen dabei weit weniger im Fokus als Frauen. Als Verursacher von Abtreibungen stellen sie aber ein mögliches Feindbild dar. So sagte beispielsweise Theresa Habsburg in ihrer Rede beim „Münchner Marsch fürs Leben“ 2022:

„Es gibt leider auch viele Männer, die sich scheinheilig als Feministen bezeichnen, um den Frauen die Pille und die Abtreibung als Symbol der Emanzipation und ihrer Freiheit zu verkaufen.“ (Theresa Habsburg, Rede beim Münchner Marsch fürs Leben 2022)

Darüber hinaus werden Männer in erster Linie in ihrer angeblich „natürlichen“ Rolle als potenzielle Väter und Beschützer der Familie adressiert. Sie sollen Verantwortung übernehmen und die Entscheidung nicht allein der Frau überlassen, wie Theresa Habsburg auch in ihrer Rede ausführte. So werden auch beim „Münchner Marsch fürs Leben“ jährlich Schilder mit der Aufschrift „Väter werden durch Liebe zu Helden“ mitgeführt. Auch Gabriele Kuby geht dort in einem Interview auf die Rolle der Männer ein. Sie macht den Feminismus dafür verantwortlich, dass Männer ihre Rolle nicht mehr wahrnehmen und sich in der Debatte um Schwangerschaftsabbrüche kaum beteiligen. Sie beschreibt die Rolle, die Männer übernehmen sollen:

„Aber wir wollen unbedingt, dass die Männer wieder Väter werden, die als Männer Verantwortung übernehmen und zu ihren Kindern stehen und der Frau die Sicherheit geben und sagen, ja wir machen das zusammen.“ (Gabriele Kuby beim „Münchner Marsch fürs Leben“ gegenüber Auf1)

Hier wird deutlich, dass es nicht darum geht, die Frau in ihrer Entscheidung zu unterstützen, sondern sie dazu zu bringen den Fötus auszutragen. Verbunden mit der Vorstellung einer „natürlichen“, zweigeschlechtlichen Ordnung und den darin zugewiesenen Geschlechterrollen ist auch das Bild der traditionellen Kleinfamilie. Dabei wird Heterosexualität als „natürlich“ angenommen und alles davon Abweichende abgelehnt. Auf die mit dieser Vorstellung einhergehende Queer- und Transfeindlichkeit kommen wir weiter unten nochmal zu sprechen. Die traditionelle Familie wird als die einzige, richtige Option angesehen, denn eine andere Wahl würde immer mit einem Schaden für die Kinder einhergehen (vgl. Sanders et al. 2014, 26f.).

So ist auch logisch, dass damit verbunden auch eine restriktive Sexualmoral vertreten wird. So ist die Ehe für die Anti-Choice-Bewegung der einzige Ort, an dem Sexualität stattfinden sollte – natürlich immer mit dem Zweck der Reproduktion (vgl. Sanders et al. 2018, 28). Nach ihrer Vorstellung soll Sexualität nicht dem Lustgewinn dienen, sondern familienorientiert sein, da Sexualität nur vor dem Hintergrund der Reproduktion ausgeübt werden solle. So sagte z.B. Christiane Lambrecht von den „Christdemokraten für das Leben“ beim „Münchner Marsch fürs Leben“ 2022 gegenüber Auf1:

„Jeder der Sex hat, muss damit rechnen, dass ein Baby entsteht. […] und ein Kind sollte ja nur dann entstehen, wenn ein Nest gebaut ist, das heißt, wenn Mann und Frau sagen, ja wir gehören zusammen, am besten heiraten sie, […] Und das ist sicherlich, wie ich schon sagte, in der Gesellschaft, durch diese Sexualerziehung in den Schulen, die völlig die Fortpflanzung und den Liebesgedanken los-, voneinander getrennt haben“ (Christiane Lambrecht beim „Münchner Marsch für Leben“ 2022 gegenüber Auf1).

Oft wird in diesem Zuge eine auf Lust und Befriedigung ausgerichtete Sexualität mit dem Bild einer unverantwortlich und unkontrolliert Sex habenden Frau verknüpft, die dann abtreibt und psychisch krank wird. Schon allein an dieser Argumentationslinie lässt sich der Antifeminismus der Anti-Choice-Bewegung deutlich erkennen. So sind die Themen Sexualität, Mutterschaft und heterosexuelle Kleinfamilie zentrale Charakteristika des Antifeminismus (vgl. Blum 2019, 108f.). Aber auch bei der Anti-Choice-Bewegung wird die Verschiebung antifeministischer Diskurse hin zu „antigenderistischen“ deutlich, in denen nicht mehr nur die Frauenbewegung und ihre Errungenschaften das Feindbild darstellen, sondern die Geschlechterforschung und das dekonstruktivistische Geschlechterverständnis als Ideologie diskreditiert werden (vgl. Maihofer/Schutzbach 2015, 202). Im diesem Zuge werden vor allem queer-feministische Kämpfe als Gefahr für die eigenen Werte und Strukturen angesehen. Die erkämpfte – von Reproduktion und Ehe abgekoppelte – Form von Sexualität wird unter anderem als Grund dafür bezeichnet, dass Abtreibungen heute sozusagen straffrei seien (vgl. Sanders et al. 2014, 27).

„Berufung auf Gott“ und die Vision eines christlichen Staates

Die christliche Praxis von AbtreibungsgegnerInnen wird besonders bei den „1000-Kreuze-Märschen“ sichtbar.     Credits: Lina Dahm

„Und deshalb bitte, lasst uns Schwangere in Not, ihre ungeborenen Kinder und ihre Familien vor der Abtreibung bewahren, indem wir das ganze Potential der christlichen Nächstenliebe entfesseln. Machen wir uns heute auf den Weg der Erneuerung Europas in Jesus Christus“ (Kristijan Aufiero, Rede beim „Münchner Marsch fürs Leben“ 2023)

Wie bisher bereits deutlich wurde, beruft sich die Anti-Choice-Bewegung häufig auf christliche Argumentationen. Nicht verwunderlich, wenn der Hauptteil der Aktiven dem christlichen Fundamentalismus zuzuordnen ist und die Mehrheit der AbtreibungsgegnerInnen in christlichen Gemeinden unterschiedlicher Konfessionen organisiert sind. So dient vor allem auch die gemeinsame christliche Praxis als verbindender Moment, gemeinsame Gottesdienste sind zum Beispiel integraler Bestandteil jedes Marsches, nicht nur in München. Aber auch die Berufung auf und Präsenz von christlichen Autoritäten ist dominant (vgl. Sanders et al. 2018, 31f.). So sprach beispielsweise beim „Münchner Marsch fürs Leben“ bereits zweimal Pater Johannes von den Passionisten aus München Pasing. 2023 wurde zudem ein gefaktes Grußwort von Kardinal Marx verlesen, welches durch die gute Arbeit der Journalist*innen Lina Dahm und Robert Andreasch glücklicherweise aufflog, aber bezeichnend dafür ist, welcher Wert einem solchen beigemessen wird. Die christliche Praxis wird zudem auch besonders bei den von Wolfgang Hering organisierten „1000-Kreuze-Märschen“ sichtbar, bei denen AbtreibungsgegnerInnen betend für die angeblich täglich 1000 abgetriebenen Föten mit weißen Kreuzen durch die Stadt laufen. Aber auch an den oben bereits beschriebenen expliziten christlichen Argumentationen und der dominanten Erzählung einer, die Gesellschaft bestimmenden „Kultur des Todes“ zeigt sich die Rolle des christlichen Glaubens in der sogenannten „Lebensschutz“-Bewegung (vgl. Sanders et al. 2018, 31f.). Auch Matt Britton von „40 days for life“ betitelt den Kampf der Anti-Choice-Bewegung in seiner Rede beim „Münchner Marsch fürs Leben“ 2023 als Kampf gegen den Teufel:

„It’s not just them, we’re not fighting Antifa, we are fighting anarchy, we are fighting the evil one, we are fighting the devil. And that’s why you are marching“ (Matt Britton, Rede beim Münchner Marsch fürs Leben 2023)

In seiner Rede bedient der US-amerikanische Abtreibungsgegner Matt Britton von „40 days for life“ das rassistische, antisemitische und antifeministische Narrativ des „Großen Austauschs“. Während Deutschland Migrant*innen und Geflüchtete aufnähme, so Britton, würden jedes Jahr 100.000 deutsche Babys abgetrieben. Credits: Lina Dahm

Abgesehen von klassischen christlichen Argumentationen ist insb. auch die Vision einer Gesellschaft, die das Religiöse zur Staatsmaxime macht, ein zentraler Bestandteil des Weltbildes der Anti-Choice-Bewegung. Der derzeitige Staat wird abgelehnt, da er nicht ihren Vorstellungen entspricht. Insbesondere im Hinblick auf eine staatliche Verankerung von Diversität als Bestandteil der Kindererziehung oder der gleichgeschlechtlichen Ehe wird der Staat bekämpft. Andererseits fordern AbtreibungsgegnerInnen jedoch auch mehr staatliche Eingriffe im Hinblick auf ihre Forderungen. So sollen Schwangerschaftsabbrüche verboten oder Schwangerschaftsabbruch durchführende Ärzt*innen bestraft werden (vgl. Sanders et al. 2014, 31f.). Besonders deutlich zeigt sich in Matt Brittons Rede, dass Gott als die höchste Instanz angesehen wird, die über allem insb. auch über den staatlichen Einrichtungen steht:

„But I am here to tell you: Praise be to God almighty, Ad maiorem Dei gloriam – all the glory to god! Praise be to god almighty – that last year in June our Supreme Court, you know they are not supreme, you can’t put on a robe and call yourself supreme. God is supreme but our Supreme Court calls themselves Supreme, so does yours“ (Matt Britton, Rede beim Münchner Marsch fürs Leben 2023)

Die Forderung nach einem christlichen Staat und nach der Ausrichtung der Gesetze nach Gottes Geboten macht sehr deutlich, wie das Weltbild der Anti-Choice-Bewegung grundsätzlich antidemokratisch und antipluralistisch ist (vgl. Sanders et al. 2014, 31).

„Die Beschwörung einer christlich bis völkisch definierten demografischen Krise“ 

Nicht nur AbtreibungsgegnerInnen beschwören gerne eine demografische Krise.
Credits: Lina Dahm

„Das Volk stirbt im Mutterleib“ (Tobias B. Ottmar 2005 im Lebenforum – Zeitschrift der ALfA)

Eine weitere Argumentationslinie der Anti-Choice-Bewegung, die vor allem auch von der „Neuen Rechten“ verfolgt wird, ist die Beschwörung einer demografischen Krise, welche die Existenz des deutschen Volkes oder des Christentums bedrohe. Diese werde insbesondere durch die geringen Geburtenzahlen, die scheinbar hohe Zahl an Schwangerschaftsabbrüchen und teils auch durch die zunehmende Einwanderung verursacht. Entgegen jeder Realität wird der „Untergang des christlichen Abendlandes“ konstruiert und Christ*innen als verfolgte Minderheit inszeniert. Das angeblich bedrohte Christentum müsse verteidigt werden. Deutlich wird diese Konstruktion in einem Post der „AfD Hessen“ 2017:

„In Deutschland wird es wieder gefährlich, ein Kreuz zu tragen“ (AfD Hessen)

Die Argumentation geht jedoch teilweise auch noch weiter. Insbesondere von der „Neuen Rechten“ werden die Ursachen für die Behauptung, dass „deutsche Volk“ würde aussterben, beim Rückgang der Natalität und bei der „massenhaften Einwanderung“ ausgemacht. Auch der Feminismus wird hier zum Feindbild, sei er doch verantwortlich für die „Auflösung der Familie“ und den „Zeugungs- und Gebärstreik“, in dem sich die deutschen Frauen befinden würden (vgl. Sanders et al. 2014, 38ff.). Dabei wird nicht nur die „massenhafte Einwanderung“ als Bedrohung für das „deutsche Volk“ angesehen, sondern auch die Geburtenzahlen jener, die diesem imaginierten „Volk“ aus ihrer Sicht nicht angehören. Diese Argumentationslinie schließt offensichtlich an den antisemistischen Verschwörungsmythos des „Großen Austausches“ an:

„Einwanderung findet bei uns ja längst nicht mehr über die Grenzen, sondern über die Kreißsäle statt“ (Interview mit Theodor Schmidt-Kaler, 2010 in der Jungen Freiheit)

Auch wenn radikale AbtreibungsgegnerInnen sich nicht der gleichen radikalen Rethorik bedienen, wie andere Teile der extremen Rechten, werden bspw. auch beim Slogan von „Kaleb e.V.“ – ein Anti-Choice-Verein, gegründet 1990 in Leipzig – eindeutig rethorische Bezüge zu Thilo Sarrazin deutlich, welcher durch sein Buch „Deutschland schafft sich ab“ viele Positionen der „Neuen Rechten“ populärer gemacht hat:

„Deutschland treibt sich ab“ (z.B. Gerlind Elsner 2011, damals Vereinsvorsitzende von Kaleb e.V.)

Sehr konkret bezieht sich auch Gabriele Kuby auf Thilo Sarazzin in einem Artikel 2014 (Magazin „Z für Zukunft“). Sie empfiehlt sein Buch als Quelle, um die mit der sogenannten „Kultur des Todes“ angeblich einhergehenden Folgen, wie die sinkenden europäischen Geburtenraten sowie die imaginierte Bedrohung Deutschlands durch einen wachsenden islamischen Bevölkerungsanteil, zu verstehen (vgl. Sanders et al. 2014, 42). Trotz des scheinbaren Grundsatzes der Anti-Choice-Bewegung für das Lebensrecht aller Menschen zu sein, „geht es dann eben doch einigen sehr deutlich um die Frage, wessen Kinder zur Welt kommen. […] Es geht in den Aussagen der extrem rechten ‚Natalisten‘ ebenso wie bei Kuby klar darum, dass einige Kinder einen höheren Wert in ihrer Welt haben als andere: Sie müssen schon weiß, deutsch und christlich sein, um Deutschland zu retten“ (Sanders et al. 2014, 42).

Besonders häufig taucht die Argumentation auf, Schwangerschaftsabbrüche wären für den aktuellen Fachkräftemangel verantwortlich. So wurden zum Beispiel 2023 Flyer über Dr. Stapf – einer der wenigen Ärzt*innen, die in München Schwangerschaftsabbrüche durchführen – mit der Aufschrift: „Friedrich Stapf schlachtet Fachkräfte vor der Geburt“, in München verteilt. Auch Silja Fichtner sprach in einem Mobilisierungsvideo für den „Münchner Marsch fürs Leben“ 2023 auf Instagram über die bedrohte Zukunft Deutschlands, welche durch das Verbot von Abtreibungen gesichert werden könne:

„Fachkräftemangel, Erodierung der sozialen Sicherungssysteme. Abtreibung hat auch ganz konkrete, verheerende ökonomische Konsequenzen. Hören wir auf die Zukunft unseres Landes zu töten. Hören wir auf, Ungeborene zu töten“ (Silja Fichtner, Reel Instagramkanal  muenchnermarschfürsleben)

Diese Beschwörung einer „demografischen Krise“ ist nach Ulli Jentsch eine der beiden Argumentationslinien, „bei denen die ‚Lebensschutz‘-Bewegung und die ‚Neue Rechte‘ zusammenfallen und sich gegenseitig verstärken“ (Jentsch 2016, 102). Nicht nur hier wird die extrem rechte Ideologie der Anti-Choice-Bewegung sichtbar, auch die nächste Argumentationslinie macht dies mehr als deutlich.

Angriff auf den Werteverfall durch „die 68er“, insbesondere den Feminismus und die sogenannte „Gender-Ideologie

„[…] wenn wir nicht mehr glauben, dass wir von einem guten Gott gewollt und nach seinem eigenen Bild ungleicher Würde geschaffen sind, dann stürzen wir in die Barbarei und nennen es Fortschritt.“ (Gabriele Kuby, Rede beim Münchner Marsch fürs Leben 2022)

Dieser Herr, ein Teilnehmer des 2. „Marsch fürs Leben“ in München, scheint ganz genau zu wissen, was Frauen brauchen. Um sich wirklich weiblich zu fühlen, muss sie ein Kind austragen und gebären.  Credits: Lina Dahm

Die Ideologie der Anti-Choice-Bewegung ist – wie oben bereits angedeutet – geprägt von dem Ziel der Retraditionalisierung gesellschaftlicher Normen und der Wiederherstellung vegangener Zustände. In dieser Folge ist es nicht verwunderlich, dass sie gesellschaftliche Umbrüche ablehnen oder sich von ihnen bedroht fühlen. Das zeigt sich auch in ihrer Entstehungsgeschichte als Gegenbewegung zu den feministischen Kämpfen der 68er. Für die Anti-Choice-Bewegung „verkörpert die moderne Gesellschaft v.a. Materialismus, Profitdenken, Hedonismus und Egoismus – alles Schlagworte, die verantwortlich für die Entwertung von Familien und dem menschlichen Leben an sich seien“ (Sanders et al. 2014, 33). Begonnen hat dieser imaginierte Werteverfall und die Entstehung ihrer Feindbilder für die AbtreibungsgegnerInnen mit den feministischen Kämpfen Ende der 60er Jahre, mit denen insbesondere die Feindbilder Materialismus und Feminismus entstehen. Der Materialismus, der alles Wirkliche als Materie interpretiert und ohne Gott oder ähnliches auskommt sowie der Kommunismus, welcher Gott leugnet werden als irrende Ideologien abgelehnt und bekämpft (vgl. Sanders et al. 2014, 34). Insbesondere der Feminismus ist jedoch zum zentralen Feindbild radikaler AbtreibungsgegnerInnen geworden:

„Das ist halt alles eine Folge vom Feminismus, der den Frauen die Lüge verkauft, dass sie frei sind, wenn sie ihr eigenes Kind töten können. […], die Frauen akzeptieren ja garnichtmehr den Mann in seiner Verantwortung […].“ (Gabriele Kuby beim Münchner Marsch fürs Leben gegenüber Auf1)

Ein dezidierter Antifeminismus ist neben dem sogenannten „Lebensschutz“ ein zentraler ideologischer Bestandteil. So wird der Feminismus nicht nur – wie oben bereits beschrieben – als Grund für die sogenannte „demografische Krise“ ausgemacht, sondern auch dafür verantwortlich gemacht, dass eine Vielzahl an Frauen unglücklich seien und zahlreiche Föten abgetrieben werden. Ganz zu schweigen vom angeblichen Verlust der „natürlichen“ Rolle des Mannes als Versorger seiner Familie. Vor allem in den letzten beiden Jahrzehnten erweiterte sich das Feindbild und insbesondere Trans- und Queerfeindlichkeit wurden lauter (vgl. Sanders et al. 2014, 35f.). Vor allem durch die Kämpfe und Errungenschaften des dritte Welle (Queer-)Feminismus, die angebliche Gefahr durch die sogenannte „Gender-Ideologie“ und die Imagination der Auflösung der Geschlechtsidentitäten, ist die LGBTIQ-Bewegung als Repräsentantin einer reproduktionsunabhängigen und damit „unmoralischen“ und „unnatürlichen“ Sexualmoral zum Feindbild geworden. Damit einher ging beispielsweise auch das Engagement gegen die Verankerung von sexueller Vielfalt in den Lehrplänen für schulischen Sexualunterricht (vgl. Sanders et al. 2018, 29f.).  Der Kampf um heteronormative Hegemonie und die Dämonisierung von Gender und sexueller Vielfalt mittels der Chiffre „Kind“, die als moralische Waffe dient (vgl. Schmincke 2015, 94), zählt auch in München zum Betätigungsfeld radikaler AbtreibungsgegnerInnen. So organisierte der Verein „Stimme der Stillen e.V.“ im Juni 2023 eine Kundgebung gegen eine Lesung von zwei Drag-Künstler*innen und einer jungen Transautorin in der Münchner Stadtbibliothek Bogenhausen. Die Gebetsaktion stand unter folgendem Motto:

„Schutz der Kinder vor Ideologie und Sexualisierung“ (Instapost Münchner Marsch fürs Leben 05.06.2023)

Besonders bei diesem Anlass wurde deutlich, dass dieses Feindbild eines der antifeministischen Themenfelder ist, unter welchem sich unterschiedliche rechte AkteurInnnen sammeln können und sich „im Sinne der Kinder“ zusammenschließen. So meldeten neben der Stimme der Stillen e. V. auch die AfD sowie das Spektrum der PandemieleugnerInnen Kundgebungen an. Glücklicherweise fand auch eine große Kundgebung in Solidarität mit der Lesung und gegen queer- und transfeindliche Hetze statt. Die Lesung konnte stattfinden, jedoch leider ohne die Autorin, welche wegen zahlreichen Bedrohungen ihre Teilnahme an der Lesung absagte.

Verschwörungsideologische und antisemitische Argumentationslinien

Wie in den vergangenen Jahren relativiert dieser Teilnehmer mit seinem T-Shirt NS-Verbrechen. Sein Begleiter lässt seinem Hass auf Feminist*innen, insbesondere auf das querfeministische what-the-fuck-Bündnis, freien Lauf. Credits: Lina Dahm

Das Feindbild „68er“-Bewegung und damit verbundene Feindbilder dienen dabei als Chiffren für eine imaginierte Macht einer linken Elite in Gesellschaft und Staat, welche verantwortlich für den Umbau der Gesellschaft hin zu Individualismus und weg von christlichen Werten sei. An diesem Punkt werden auch verschwörungsideologische Argumentationsmuster deutlich sichtbar. Nicht selten wird von einer „Abtreibungs- und Euthanasielobby“ gesprochen, welche unter anderem zusammen mit der Pharmaindustrie hinter dem Kampf für ein Recht auf Schwangerschaftsabbrüche stecken solle (vgl. Sanders et al. 2014, 37). Auch bei dieser Argumentationslinie wird die Trans-, Homo- und Queerfeindlichkeit der Anti-Choice-Bewegung deutlich, wenn sie LGBTIQ-Menschen und Frauen als mächtige „Homo-Lobby“ darstellen, welche Geschlechtsidentitäten auflösen und eine lustorientierte, reproduktionsunabhängige Sexualmoral verbreiten will (vgl. Sanders et al. 2018, 29f.). Dieser Verschwörungsmythos wird auch in der Rede des erzkatholischen und reaktionären Aktivisten Alexander Tschugguel sehr deutlich:

„Die EU betreibt mehrere Abtreibungslobby-Vereine. In Deutschland gibt es mehrere Abtreibungslobby-Vereine […] In diese Abtreibungslobby-Vereine fließen Milliarden, Milliarden an Dollar weltweit. Milliarden an Dollar. Das heißt wenn irgendwer von ihnen glaubt, dass die Bevölkerung sich natürlich dazu entwickelt hat, immer mehr ihre Kinder umzubringen, ihre eigenen, dann muss ich sie leider darüber aufklären, dass ist falsch, das ist eine Lüge.“ (Alexander Tschugguel, Rede beim Münchner Marsch fürs Leben 2021)

Bei dieser Argumentationslinie werden zentrale Aspekte verschwörungsideologischer Erzählungen, wie die duale Aufteilung in Gut und Böse, der Intentionalismus – alles sei geplant – und der Okkultismus – es gäbe eine Verschwörung im Geheimen – sichtbar. Radikale AbtreibungsgegnerInnen inszenieren sich dadurch als unterdrückte, „gute“ Minderheit im Kampf gegen „das Böse“. Auch Theresa Habsburg sprach in ihrer Rede 2022 von der Abtreibungsindustrie, welche die Frauen kontrollieren würde:

„Aber beim Thema Abtreibung muss man eigentlich nur dem Geldstrom folgen, um zu sehen, wer wirklich die Frauen kontrollieren will. Und das führt uns direkt zur Abtreibungsindustrie. Es ist gar nicht zu unterschätzen, unter was für einem Bann Firmen wie Planned Parenthood die Welt gelegt haben.“ (Theresa Habsburg, Rede beim Münchner Marsch fürs Leben 2022)

Theresa Habsburg vertrat beim „Marsch fürs Leben“ 2022 in München die österreichische Anti-Choice-Szene. Sie raunt verschwörungsideologisch von einer Lobby, die mehr Abtreibungen erreichen möchte und dem vielen Geld, das in dieser Abtreibungsindustrie fließen würde. Credits: Lina Dahm

Die verschwörungsideologischen Argumentationen beschränken sich jedoch nicht nur auf den Feminismus und die 68er-Bewegung. So zeigt sich in einer Aussage von Gabriele Kuby beispielsweise ein weiterer Verschwörungsmythos:

„Wir leben in einer Zeit, in der die Angst immer mehr geschürt wird, mit den ganzen Themen, mit Corona. Das konnte alles so durchgehen, weil Angst Angst Angst Angst Angst verbreitet wird, auch wenn es noch so lügenhaft war.“ (Gabriele Kuby beim Münchner Marsch fürs Leben gegenüber Auf1)

Die mit diesem Mythos verbundene Imagination eines polit-medialen Establishments, das alles – auch die Presse – lenken würde, ist untrennbar verbunden mit der antisemitischen Erzählung, dieses sei durch Juden*Jüdinnen kontrolliert und gelenkt. Dieser Verschwörungsmythos und weitere antisemitische Narrative zeigen sich auch nochmal sehr klar in einem Zitat von Paul Cullen aus seinem Vortrag beim „Lebensrechtforum“ 2016:

„Unsere Gegner haben also das gesamte polit-mediale Establishment, fast die gesamte Unterhaltungsindustrie und die Dinosaurier-Medien auf ihrer Seite. Dazu noch große Teile der Wirtschaft, mächtige Finanzinteressen wie die Soros-Stiftung, Chuck Feeney‘s Atlantic Philanthropies, die Bill und Melinda Gates-Stiftung, große Teile der Kirchen und nicht zuletzt das Bildungssystem, insbesondere die Universitäten. […] Die Abtreibungs- und Euthanasie-Lobby wird von mächtigen Finanzinteressen unterstützt. Der Spekulant und Strippenzieher Georg Soros gilt als einer der reichsten Männer der Welt.“ (Paul Cullen 2016, Vortrag beim Lebensrechtforum in Kassel)

Beim „1000-Kreuze-Marsch“ in München am 3.10.2020 marschieren rund 170 radikale Abtreibungsgegner:innen mit weißen Holzkreuzen ausgestattet bei teils strömendem Regen durch die Innenstadt, um gegen Schwangerschaftsabbrüche zu demonstrieren.                                 Credits: Lina Dahm

Seine Argumentation ist nicht nur verschwörungsideologisch, sondern baut auch ganz klar auf antisemitischen Narrativen auf. So zeigen sich in seiner Aussage, neben dem Verschwörungsmythos der jüdischen Weltverschwörung, weitere antisemitische Verschwörungserzählungen. George Soros als vermeintlicher Strippenzieher ist ein verbreitetes antisemitisches Chiffre, das sehr häufig in verschwörungsideologischen Erzählungen auftaucht. So muss nicht offen gesagt werden, dass hinter der sog. „Abtreibungs- und Euthanasielobby“ Juden*Jüdinnen stehen würden, da es ausreicht, diesen einen Namen zu nennen (vgl. Kreutzmann 2023, 71). Zudem ist der Begriff der „Euthanasie-Lobby“ – welcher relativ häufig von AbtreibungsgegnerInnen verwendet wird – grundsätzlich ein holocaust-relativierender und antisemitischer Kampfbegriff. An diesem Zitat lassen sich sicherlich noch weitere verschwörungsideologische und antisemitische Argumenationsmuster ausmachen, dies würde an dieser Stelle jedoch zu weit gehen. Weitere Informationen gibt es beispielsweise in einem Kapitel des von einer Leipziger Recherchecrew 2022 herausgegebenen Zines „Hätt Maria abgetrieben“, welches sie Paul Cullen und Verschwörungsideologien im „Lebensschutz“ widmen.

Ganz abgesehen von den grundsätzlichen Ähnlichkeiten und Verschränkungen von Antifeminismus und Antisemitismus, auf welche wir an dieser Stelle auch nicht weiter eingehen können, wird abermals deutlich, dass die Anti-Choice-Bewegung nicht isoliert zu betrachten ist, sondern als Teil der (extremen) Rechten. Es hat sich mehrmals gezeigt, dass das Weltbild der Anti-Choice-Szene nicht nur antifeministisch ist, sondern auch mit zahlreichen anderen Ungleichheitsideologien zusammenhängt. So beschreibt auch Rebekka Blum diesen Aspekt als ein Definitionsmerkmal des Antifeminismus, welcher eng verbunden ist mit anderen Ungleichheitsideologien, insb. des Antisemitismus, der Homo- und Transfeindlichkeit und des Rassismus (vgl. Blum 2019, 110). Deswegen ist es wichtig, die verschiedenen Ideologien der Ungleichwertigkeit nicht isoliert voneinander zu betrachten, sondern ihr Ineinanderwirken zu verstehen, um sich den antiemanzipatorischen Bestrebungen radikaler AbtreibungsgegnerInnen aktiv entgegenstellen zu können (vgl. Kreutzmann 2023, 72).