Perspektivenwechsel USA — Wie sich die Religiöse Rechte ihre Macht in den Institutionen sichern konnte

Radikale AbtreibungsgegnerInnen nerven nicht nur in München, Bayern und Deutschland. Der Kampf um einen Zugang zu sicheren Schwangerschaftsabbrüchen bzw. die Verhinderung dessen als Unterdrückungsform der Frau stellt ein globales Phänomen dar. Anti-Choice-AkteurInnen sind über Nationalstaaten hinweg miteinander vernetzt.

Ebenfalls bestens vernetzt sind emanzipatorische und feministische Kämpfe für die Selbstbestimmung der Frau, so zeigt es ein Beispiel aus Mexiko. Feminist*innen, die sich in Mexiko in einer Abortería engagieren, also einer Beratungsstelle für (ungewollt) Schwangere, erzählen von dem vermehrten Zulauf von U.S.-amerikanischer Seite, seitdem die Grundsatzentscheidung zum Abtreibungsrecht Roe v. Wade im Juni 2022 gekippt wurde.

„Sie waren sich vorher so sicher, dass sie das verfassungsgemäße Recht auf eine Abtreibung haben, und nun haben sie Angst und wissen nicht, was sie machen sollen.“ (Barke 2022)

Weiter führt die Aktivistin Cardona aus:

„Dass Frauen in Mexiko so viel selbstbewusster über Schwangerschaftsabbrüche sprechen [..] ist [..] Ergebnis jahrzehntelanger aktivistischer Vernetzung. Schon seit vielen Jahren kämpfen Aktivist*innen dafür, dass wir so frei arbeiten können. Dieses Wissen über den gut vernetzten Aktivismus wollen wir nun an die Frauen in den USA weitergeben und sie in diesem Kampf bestärken.“ (Barke 2022)

Der Oberste Gerichtshof in Mexiko entschied im September 2023, dass es verfassungswidrig ist, Abtreibungen unter Strafe zu stellen, was sicherlich dem jahrzehntelangen, feministischen Druck von der Straße als Erfolg verbucht werden kann. Die (Un-)Möglichkeit für einen Zugang zu sicheren Schwangerschaftsabbrüchen – wie eben am Beispiel der USA angeführt – ist jedoch historisch umkämpft und kann sich schnell wieder ändern, solange Gerichtsurteile nicht in Gesetze umgewandelt und autoritäre Zuspitzungen des Staates weiterhin forciert werden. Gleichzeitig zeigt eben der Blick auf und die Analyse von globalen feministischen Kämpfen, dass eine Veränderung patriarchaler und frauenfeindlicher Verhältnisse möglich ist.

Am Beispiel der USA soll im Folgenden aufgezeigt werden, dass der Zugang zu sicheren Schwangerschaftsabbrüchen keine ad-hoc Entscheidung und Ergebnis sich rasch wandelnder politischer Veränderungen ist, sondern Ergebnis eines Projekts mit äußerst langem Atem. Religiöse und erzkonservative Gruppen in den USA versuch(t)en über Jahrzehnte hinweg ihren Einfluss auf die Institutionen auszuweiten, obwohl sie gesamtgesellschaftlich eine Minderheitenmeinung repräsentieren. Das Urteil des Obersten Gerichtshof ist ein erster Meilenstein für sie, auf dem sie sich jedoch nicht ausruhen werden. Angestrebt werden weitere Einschränkungen, beispielsweise von Transrechten.

Roe v. Wade Urteil – historischer Dreh- und Angelpunkt U.S.-amerikanischer Geschichte zu Abtreibung

Am 22. Januar 1973 wurde die geschichtsträchtige Grundsatzentscheidung zum Selbstbestimmungsrecht der Frauen „Roe v. Wade“ vom Obersten Gerichtshof gefällt: Frauen hatten qua US-Verfassung prinzipiell das Recht selbst zu entscheiden, ob sie eine Schwangerschaft abbrechen wollen oder nicht. Bis zu diesem Urteil waren in den meisten US-Bundesstaaten Schwangerschaftsabbrüche nur in absoluten Ausnahmefällen zulässig.

1970 verklagte Jane Roe, Pseudonym von Norma McCorvey, den Staatsanwalt der texanischen Stadt Dalles, Henry Wade und den Staat Texas. Roe wurde ungewollt schwanger und durfte laut dem damals gültigen Recht nicht abtreiben. Ihre Anwältinnen argumentierten, dass das weitgehende Abtreibungsverbot in Texas gegen die US-Verfassung verstoße. Die Klage ging bis vor den Obersten Gerichtshof. Sieben der neun Richter stimmten für das Recht auf Abtreibung und damit war das texanische Recht für verfassungswidrig erklärt worden. Die USA hatte damit ein liberales Abtreibungsrecht geschaffen, gleichwohl es zwischen den Bundesstaaten Unterschiede bei der Fristenauslegung gab.

Dem Urteil ging eine breite gesellschaftliche Debatte um das Thema voraus. Die Frauenbewegung forderte den Zugang zu sicheren und legalen Schwangerschaftsabbrüchen. Das Grundsatzurteil führte zu Widerständen von Seiten religiöser und konservativer Gruppen, die mehrmals versuchten gegen das Urteil zu klagen. Vermehrt wurden Frauen vor Beratungs- und Abtreibungspraxen belästigt und zum Teil gewaltsam am Eintritt gehindert. Der Arzt George Tiller wurde gar von radikalen AbtreibungsgegnerInnen ermordet.

Laut einer repräsentativen Studie gaben im Jahr 2022 61 % der befragten U.S.-Amerikaner*innen an, dass Abtreibungen legal sein sollten. Der mittlerweile konservativ dominierte Oberste Gerichtshof hat am 24. Juni 2022 das landesweite Recht auf Abtreibungen gekippt, nun liegt es bei den Bundesstaaten selbst hierfür eigene Regelungen zu schaffen: derzeit sind nur in 14 von 52 Bundesstaaten Abtreibungen legal (Stand September 2023).

Herrschaft der Minderheit

Die Entscheidung des amtierenden Obersten Gerichtshof spiegelt nicht die Einstellung der Mehrheit der U.S.-Amerikaner*innen bezüglich der Frage von Schwangerschaftsabbrüchen wider. Die Besetzung der Richter*innen wurde nicht nur von dem ehemaligen Präsidenten Donald Trump taktisch umgesetzt – er verwies mehrmals auf den Obersten Gerichtshof mit „my judges“ – sondern auch von der religiösen Rechten über Jahrzehnte vorbereitet beziehungsweise unterstützt.

Annika Brockschmidt, Journalistin und Expertin für die Religiöse Rechte in den USA , erläutert hierzu, dass „die Religiöse Rechte in den letzten Jahrzehnten ein hocheffizientes Netzwerk aus Medienimperien, Kirchen, Organisationen und Lobbygruppen auf[baute], dessen erfolgreiche Wählermobilisierung ihnen langsam, aber sicher den Weg ins Machtzentrum von Washington ebnete“ (Brockschmidt 2022b).

Die Ideologie der Religiösen Rechten in den USA unterscheidet sich dabei nicht sonderlich von der der Anti-Choice-AkteurInnen in Deutschland. In ihrer Weltanschauung soll es keine Trennung von Kirche und Staat geben, das heißt, dass Religion bzw. „das Wort Gottes“ – also die wörtliche Auslegung der Bibel ohne historische Einordnung – politischen Institutionen und Gesetzen vorrangig sein sollte. Sie wollen „Amerika für Gott zurück gewinnen, die christliche und amerikanische Identität sind für sie untrennbar miteinander verbunden“ (Brockschmidt 2022b). Deshalb strebt die religiöse Rechte an, dass Ämter in säkularen Institutionen durch konservative Christ*innen besetzt werden und „diese nach ihrem Verständnis im Sinne Gottes leiten“ (ebd.).

Der Erfolg der Religiösen Rechten liegt auch daran, dass Konflikte, die zwischen verschiedenen Gruppen und Konfessionen bestanden, durch verbindende Themensetzung wie dem Aufruf zum Kulturkampf, überwunden werden konnten und so die Basis für einen gemeinsamen WählerInnenblock geschaffen wurde. Hohe finanzielle Mittel von GroßspenderInnen führten ebenfalls dazu, dass AkteurInnen der religiösen Rechten vermehrt Einfluss generieren konnten.

Dem „Erfolg“ der Religiösen Rechten liegt also keine Mehrheit von U.S.-Amerikaner*innen zu Grunde. Diese Minderheit verschließt sich nicht nur gegen einen Zugang zu sicheren Schwangerschaftsabbrüchen, sondern stimmt häufig auch antidemokratischen und regressiven Positionen im Allgemeinen zu. Der „Erfolg“ ist vielmehr mit dem Festhalten an einer langsamen, jedoch stetigen Taktik verknüpft: Dem Versuch einer Einflussnahme im vorpolitischen Raum und der Besetzung von strategischen Ämtern. Auf eine numerische Mehrheit konnte die religiöse Rechte auch nicht setzen. Seit Beginn war der empfundene demographische Druck (siehe auch „Die antifeministische Ideologie der Anti-Choice-Bewegung„) und die damit zusammenhängende und zunehmend heterogen werdende Bevölkerung der USA als drohendes Untergangsszenario zu vordergründig. Als das Urteil gekippt wurde sagte die Kongressabgeordnete Mary Miller öffentlich, dass das „ein großer Sieg für weißes Leben“ war.

Feministischer Widerstand und Organisierung des Pro-Choice Movements in den USA

Der versuchte Durchmarsch durch die U.S.-Institutionen von der religiösen Rechten bleibt nicht unbeantwortet. Die Pro-Choice-Bewegung ist in unterschiedlichen bürgerlichen NGOs, Beratungsstellen und auch militanten Formen feministischen Widerstands organisiert.

Bürgerliche Organisationen existieren zum Teil bereits seit den 1940er Jahren, so wie Planned Parenthood, die wie Pro Familia in Deutschland eine Beratungsstelle für die Themen Sexualität, Verhütung, Schwangerschaft und Schwangerschaftsabbruch sind. Finanzielle und logistische Unterstützung bei Schwangerschaftsabbrüchen kann bei der Organisation abortion fund angefragt werden. In den USA sind vor Beratungsstellen, Kliniken und Praxen, die Abtreibungen durchführen – wie wir es aus München und Deutschland leider ebenfalls kennen – zum Teil ununterbrochen teils gewalttätige, radikale AbtreibungsgegnerInnen vor Ort, um Ratsuchende zu belästigen. Die Organisation abortion clinic escort stellt Begleitpersonen für Ratsuchende, die die Klient*innen in Praxen und Beratungsstellen begleiten. Es kommt vor, dass Ratsuchende für den Weg abgeschirmt werden, um ihre Identität zu schützen.

Zu dem Zeitpunkt, als sich bereits abzeichnete, dass die Grundsatzentscheidung kippen könnte, haben Feminist*innen im Namen von Janes’s Revenge appelliert. Angelehnt an den Namen der Klägerin im Roe v. Wade Verfahren haben Feminist*innen anonym dazu aufgerufen in Aktion zu gehen, um die Wut über die drohende Illegalisierung von sicheren Schwangerschaftsabbrüchen zu äußern und diese weiterhin zu ermöglichen. In verschiedenen Bundesstaaten kam es zu Verschönerungsaktionen („redecorated with paint and broken glass“) auf Fake-Beratungsstellen. Für die Mitmachaktion bräuchte es nicht viel – außer ein paar verlässliche Genoss*innen: „Discover the joy in attacking the infrastructure of the patriarchy“ (Janes Revenge 2022). Auf den Hauswänden der Institutionen radikaler AbtreibungsgegnerInnen wurde infolgedessen eine deutliche Nachricht hinterlassen: „if abortion ain’t safe your ain’t safe“ (Janes Revenge 2022).

Quellenangaben:

Tagesschau (15.08.2022): Eine „Abortería“ hilft US-Amerikanerinnen. URL: https://www.tagesschau.de/ausland/amerika/mexiko-schwangerschaftsabbruch-101.html (9.9.2023).

Bundeszentrale für Politische Bildung (2023): 50 Jahre „Roe vs. Wade“: Urteil zum US-Abtreibungsrecht. URL: https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/517442/50-jahre-roe-vs-wade-urteil-zum-us-abtreibungsrecht/ (10.9.2023).

Pew Research Center (2022): America’s Abortion Quandary. URL: https://www.pewresearch.org/religion/2022/05/06/americas-abortion-quandary/ (10.9.2023).

The Fuller Project (2023): How major abortion laws compare, state by state. URL: https://fullerproject.org/story/how-major-abortion-laws-compare-state-by-state-map/ (10.9.2023).

Brockschmidt, Annika (2022): Herrschaft der Minderheit. taz. URL: https://taz.de/Religioese-Rechte-in-den-USA/!5861302/ (10.9.2023).

Brockschmidt, Annika (2022): Die Totenglocken der US-Demokratie. Trumps große Lüge und der Durchmarsch der religiösen Rechten. Blätter für deutsche und internationale Politik, 1/2022. URL: https://www.blaetter.de/ausgabe/2022/januar/die-totenglocken-der-us-demokratie (10.9.2023).

Jane’s Revenge (2023): The Time in Now – Stand Up – Take Action. URL: janesrevenge.noblogs.org (10.9.2023).

Planned Parenthood (2023): URL: https://www.plannedparenthood.org (10.09.2023).

Abortion Fund (2023): URL: https://abortionfunds.org (10.9.2023).

Noor, Poppy (2022): Pro-choice militants are targeting ‘pregnancy crisis centers’ across US. The Guardian. URL: https://www.theguardian.com/world/2022/jun/11/pro-choice-militants-pregnancy-crisis-centers-attacks-us (10.9.2023).