Gegen das Vergessen! Unser Redebeitrag bei der Gedenkkundgebung in der Schillerstraße 2022

Vor zehn Jahren enttarnte sich der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) selbst. Die antifaschistische Initiative NSU-Watch appellierte anlässlich des Jahrestages an uns Antifaschist*innen mit den Worten: „Lasst euch von offenen Fragen und fehlender Aufklärung nicht ohnmächtig machen“ und dass wir nicht resignieren, sondern das vorhandene Wissen nutzen und solidarisch handeln sollen.

Diesem Appell möchten wir uns anschließen und versuchen mit dieser Gedenkkundgebung heute einen Beitrag zu leisten, indem wir die Erinnerung an Corinna Tartarotti, die 1984 von Neonazis ermordet wurde, wachhalten.

Der Anschlag auf das „Liverpool“ ist zwar fast vierzig Jahre her, doch das ist kein Grund, den rechten Terror der „Gruppe Ludwig“ zu den Akten zu legen. Ganz im Gegenteil. Denn unser Wissen über die Opfer des Anschlags ist noch immer lückenhaft, dabei sollen sie bei kritischem Gedenken im Zentrum stehen. Zum anderen sehen wir, dass sich an den strukturellen Gegebenheiten, aus denen rechter Terror entstehen kann, über die Jahre nicht viel verändert hat. Unsere Vorredner*innen haben bereits einige Aspekte genannt.

Sicherheitsbehörden? Oft Teil des Problems.

Zu nennen wäre, dass wir bei der Aufklärung rechter Anschläge weiterhin nicht auf die Sicherheitsbehörden setzen können. Nach dem Anschlag auf das „Liverpool“ ermittelt die Münchner Polizei zunächst ausschließlich im sogenannten „Zuhälter-Milieu“. Dass der Anschlag rechtsterroristisch motiviert sein könnte kommt ihnen erst, als sich die Täter selbst wenige Tage nach dem Anschlag bei der Mailänder Nachrichtenagentur Ansa zum Anschlag in München bekennen. „Im Liverpool wird nicht mehr gefickt“ heißt es im Bekennerschreiben; und „Eisen und Feuer sind die Strafe des Nazismus“. 

Nun kann man den Ermittlungsbehörden nicht unbedingt vorwerfen, dass sie in diese Richtung ermitteln. Schließlich müssen sie alle möglichen Optionen in Betracht ziehen und mitdenken. Was man ihnen jedoch vorwerfen kann, ist, dass sie aus den Ermittlungspannen der vergangenen Jahrzehnte nichts gelernt haben. Das zeigen die rassistischen Ermittlungen gegen Angehörige zum Beispiel im NSU-Komplex oder dass man den Täter des OEZ-Attentats kurzerhand für verrückt erklärte. 

Nicht zuletzt zeigt sich ihre Unfähigkeit zu lernen, auch in der Entpolitisierung von Straftaten bei denen Geschlechtlichkeit oder Sexualität ins Spiel kommen. 1984 wurde die „Gruppe Ludwig“ sehr schnell in die Schublade durchgeknallte Oberschichtkids gepackt und versäumt, die Taten richtig einzuordnen. Daran hat sich bis heute nicht viel geändert. Tendenziell erklären Behörden Beteiligte von Taten mit Genderkomponente (wie beispielsweise Feminiziden), für unzurechnungsfähig. Die Folge ist, dass keine gesellschaftliche Analyse stattfindet – die aber gerade im Bereich Antifeminismus so dringend nötig wäre, um rechtem Terror zu begegnen. 

Kein Verlass auf staatliche Behörden.

Ein weiterer Grund, warum wir den Anschlag nicht einfach zu den Akten legen können, ist, dass wir uns bei der Erinnerung an die Opfer nicht auf den Staat verlassen können. Weder am Tatort, noch irgendwo anders in München, gibt es eine Erinnerungstafel oder irgendeinen Hinweis der auf die Opfer oder darauf, was hier am 7. Januar 1984 passiert ist, aufmerksam macht. Bis heute sind es ausschließlich antifaschistische Gruppen, die den Terroranschlag bei Demonstrationen, Stadtspaziergängen oder dem seit 2019 jährlich von der Antisexistischen Aktion München organisierten Gedenkkundgebung thematisieren. 

Corinna Tartarottis Grab wird seit diesem Jahr nicht etwa von staatlicher Seite, sondern von der antifaschistischen Informations-, Dokumentations- und Archivstelle München, kurz a.i.d.a. Archiv, finanziert. Ohne das Engagement dieser Initiativen und engagierter Einzelpersonen wäre der Anschlag heute vermutlich gänzlich in Vergessenheit geraten. 

Gedenken heißt handeln!

Dass wir bis heute so wenig über die Opfer der „Gruppe Ludwig“ wissen, liegt mit Sicherheit auch daran, dass es sich bei ihnen um Menschen handelte, die in unserer Gesellschaft bis heute keine Lobby haben. Es waren Prostituierte bzw. Sexarbeiter*innen, Drogennutzer*innen, Sinti und Roma oder wohnungslose Menschen, die bis heute ausgrenzt und diskriminiert werden.  

Gedenken heißt auch, sich nicht auf den Staat zu verlassen. 

Die geplante Gedenkstätte hier am Tatort wäre sicherlich ein Anfang, um gegen das Vergessen anzukämpfen. Wenn wir jedoch darüber sprechen, dass wir rechten Terror und das damit einhergehende Leid verhindern wollen, dann ist der selbstkritische Blick auf die eigenen menschenfeindlichen Einstellungen eine Grundvoraussetzung. Rechtem Terror muss auf gesellschaftlicher Ebene der Nährboden entzogen werden. 

Bis wir das geschafft haben, bedeutet der Satz „Gedenken heißt handeln“ für uns, dass wir die Lobby für jene sind, die zum Ziel rechter Täter*innen werden. 

Nicht zuletzt heißt das Problem Antifeminismus und Misogynie.

Aus heutiger Perspektive ordnen wir die „Gruppe Ludwig“ als eine männerbündische Gemeinschaft ein, in der soldatische Männlichkeit als Ideal galt und in der Männer die Elite der Gesellschaft darstellten. Sie, die Weibliches mit Schwäche verbanden und daher verachteten, sahen sich zu Höherem berufen. Mit dem Ziel, eine vermeintlich natürliche Ordnung wiederherzustellen, ermordeten sie jene, die sie für den imaginierten moralischen Verfall und Unreinheit in der Gesellschaft verantwortlich machten. 

Wir können die Mord- und Anschlagsserie der „Gruppe Ludwig“ schon deshalb nicht ad acta legen, weil dieses Welt- und Menschenbild bis heute in weiten Teilen unserer patriarchalen Gesellschaft vorherrscht. Antifeminismus wird so zu einer Ideologie, welche die Brücke schlägt zwischen der extremen Rechten und der sogenannten „bürgerlichen Mitte“. 

Die Brutalität und Gewalt, mit der extrem rechte Täter wie die „Gruppe Ludwig“ gegen ihre Opfer vorgehen, sorgt für Erschrecken und stößt zumeist auf Ablehnung. Die öffentliche Distanzierung von dieser Gewalt verkommt jedoch zur Phrase, wenn es gleichzeitig keinerlei Bestrebungen gibt, das Patriarchat und männliche Privilegien abzuschaffen und den zahllosen hasserfüllten, antifeministischen Kampagnen, die Konservative, christliche Fundamentalist*innen und die extreme Rechte fahren, ein Ende zu setzen. 

Rechtsextremer oder islamistischer Terror ist nur der letzte Schritt in einer meist langen Radikalisierungsgeschichte. Antifeministische und misogyne Ressentiments spielen dabei eine maßgebliche Rolle – diese müssen dringend besser analysiert und gesellschaftlich anerkannt und AkteurInnen wirksam bekämpft werden. 

Das Nichterkennen, die Verharmlosung und Pathologisierung von rechtem Terror und den Täter*innen ist neben dem Terror selbst eine Gefahr. Verhindert es doch, dass diese Gewaltverbrechen richtig eingeordnet und aufgearbeitet werden können.

Lasst Euch nicht ohnmächtig machen! 

Auch fast vierzig Jahre nach dem rechtsterroristischen Anschlag auf das „Liverpool“ in der Münchner Schillerstraße mangelt es uns an Wissen über die Opfer und Angehörigen von Corinna Tartarotti. Unsere Gedenkkundgebung bewegt aber etwas, wir haben ein Gesicht zum Namen, wir wissen wo Conny beerdigt ist, wir wissen von einem Angehörigen, dass diese Kundgebung „im Sinne“ von Corinnas Mutter Karin gewesen wäre. Es sei „wie ein kleines Wunder“ sagt er in einem Gespräch mit der Münchner Journalistin Lina Dahm, und dass unsere Kundgebungen und die Übernahme des Grabes „im Sinne von Karin Tartarotti, Corinnas Mutter, gewesen wäre“.

„Lasst euch von offenen Fragen und fehlender Aufklärung nicht ohnmächtig machen!“ schreibt NSU-Watch. Diesen Appell möchten wir hier und heute, am Anfang des neuen Jahres an Euch weitergeben. Unser Zusammenkommen heute hat einen traurigen Anlass… doch es sind solidarische Bündnisse, die uns stark machen, um all den Widerständen etwas entgegenzusetzen und den Opfern rechter Gewalt ein würdiges Gedenken zu schaffen.