Über 100 Antifaschist*innen gedenken Corinna Tartarotti und Oury Jalloh

Trotz Schneegestöber und kalten Temperaturen versammelten sich am 7. Januar 2022 über 100 Antifaschist*innen vor dem ehemaligen Club „Liverpool“. Anlass war der 38. Jahrestag des rechtsterroristischen Anschlags von 1984, verübt von der sogenannten „Gruppe Ludwig“ (mehr Informationen zum Anschlag und den Hintergründen  findet Ihr in unserer Einladung bzw. diesem Artikel von Robert Andreasch und Lina Dahm).

Allen, die nicht dabei sein konnten, möchten wir die Reden, die verschiedene Gruppen am Abend gehalten haben, in diesem Beitrag zur Verfügung stellen. Unseren Redebeitrag findet Ihr unten im Beitrag.

  • Die Aufnahme des Redebeitrags der Initiative in Gedenken an Oury Jalloh konnten wir leider nicht hochladen, aber schaut gerne auf deren Webseite vorbei, dort gibt es mehrere Berichte über die Demo in Dessau und weitere Aktionen in anderen Städten.
  • Redebeitrag antifa nt (folgt)
  • Redebeitrag Antifa Stammtisch 
  • Redebeitrag Before
  • Redebeitrag Erinnerungsgruppe (folgt)


„Lasst euch von offenen Fragen und fehlender Aufklärung nicht ohnmächtig machen“, resigniert nicht, sondern nutzt das vorhandene Wissen und handelt solidarisch.“ Diesen Appell richtete die antifaschistische Initiative NSU-Watch anlässlich des Jahrestages der Selbstenttarnung NSU an uns Antifaschist*innen und Feminist*innen.

Diese Gedenkkundgebung – die mittlerweile zum dritten Mal stattfindet – ist wie wir finden ein Ausdruck dafür. Wir freuen uns, dass heute so viele Menschen hier sind, um gemeinsam die Erinnerung an Corinna Tartarotti wachzuhalten. 

Corinna wurde 1984 von Neonazis ermordet. Der Anschlag auf das „Liverpool“ ist also fast vierzig Jahre her. Das ist eine lange Zeit und doch kein Grund, den rechten Terror der „Gruppe Ludwig“ zu den Akten zu legen. Ganz im Gegenteil. Es gibt viele offene Fragen. So ist unser Wissen über die Opfer des Anschlags noch immer lückenhaft. Dabei sollen sie bei kritischem Gedenken im Zentrum stehen, wie unsere Vorredner*innen bereits geschildert haben. Wir sehen zudem, dass sich an den strukturellen Gegebenheiten, aus denen rechter Terror entstehen kann, über die Jahre nicht viel verändert hat. Auch auf diese Kontinuitäten haben unsere Vorredner*innen bereits hingewiesen. 

Als feministische Gruppe möchten wir abschließend auf die Verknüpfung von rechter Gewalt und Misogynie bzw. Antifeminismus eingehen. Der Brandanschlag auf das Liverpool war sicherlich kein genuin antifeministisch oder misogyn motivierter Anschlag. Ebensowenig wie die Ideologie der „Gruppe Ludwig“ ausschließlich antifeministisch oder misogyn im heutigen Sinne war. Und dennoch gibt es Kontinuitäten, die Feminist*innen bis heute beschäftigen. 

Da wären die hegemonialen Männlichkeitsfantasien und das Elitedenken, welches die zwei Täter verinnerlicht hatten. Sie fühlten sich als Männer dazu ermächtigt, sich über Menschen zu erheben und jene auszuwählen und zu ermorden, die aus ihrer Sicht verantwortlich waren für eine dekadente und moralisch verfallene Gesellschaft. Grundlage hierfür lieferten unter anderem ihre konservativen und lustfeindlichen Moralvorstellungen, die sie bei der Auswahl ihrer Opfer leiteten. Die Täter wurden von Behörden und Gesellschaft für psychisch krank erklärt, die grausamen Taten so entpolitisiert. Über die Opfer der „Gruppe Ludwig“ ist wenig bekannt – was nicht überrascht, schließlich handelte es sich um Menschen, die bis heute von der Gesellschaft ausgegrenzt und diskriminiert werden.

Der Blick auf aktuelle Kämpfe zeigt: Konservative bis hin zur extremen Rechten mögen ihr Erscheinungsbild, ihre Argumentation oder Aktivitäten angepasst haben, das dahinterstehende Menschen- und Weltbild hat sich jedoch nicht geändert. Vielmehr ist Antifeminismus und Misogynie in diesen krisenhaften Zeiten zur Brückenideologie zwischen der extremen Rechten und sogenannter „bürgerlicher Mitte“ geworden. Letztere mag die rohe Gewalt, mit der rechte Täter wie die „Gruppe Ludwig“ vorgehen, vielleicht ablehnen, diese Distanzierung verkommt jedoch zur Phrase, wenn es gleichzeitig keinerlei Bestrebungen gibt, das Patriarchat und männliche Privilegien abzuschaffen. Die Forderungen nach einem Ende rechter Gewalt verhallen, wenn den zahllosen hasserfüllten, antifeministischen Kampagnen, die Konservative, christliche Fundamentalist*innen oder die extreme Rechte gegen Feminist*innen und emanzipatorische Projekte fahren, nicht endlich ein Ende gesetzt werden. All das vorhandene Wissen woraus rechter Terror entstehen kann, bringt nichts, wenn Behörden Beteiligte von Taten mit Genderkomponente (wie beispielsweise Feminiziden) weiterhin für unzurechnungsfähig erklären. Dieses Nichterkennen, die Verharmlosung und Pathologisierung von rechtem Terror und den Täter*innen ist neben dem Terror selbst eine Gefahr. Verhindert es doch, dass diese Gewaltverbrechen richtig eingeordnet und aufgearbeitet werden können. Rechtem Terror muss auf auf gesellschaftlicher Ebene der Nährboden entzogen werden. Bis wir das geschafft haben, müssen wir die Lobby für jene sein, die zum Ziel rechter Täter*innen wurden und werden.

Es gibt zweifelsohne noch viele offene Fragen rund um den rechten Terror der „Gruppe Ludwig“, aber – und da kommen wir nochmal auf das zurück, was NSU Watch geschrieben hat: „Lasst euch von offenen Fragen und fehlender Aufklärung nicht ohnmächtig machen!“ Diesen Appell möchten wir hier und heute, am Anfang des neuen Jahres an Euch weitergeben.

Unser Zusammenkommen heute hat einen traurigen Anlass… doch es sind solidarische Bündnisse, die uns stark machen, um all den Widerständen etwas entgegenzusetzen und den Opfern rechter Gewalt ein würdiges Gedenken zu schaffen. Vielen Dank, dass Ihr heute hier seid und nieder mit dem Patriarchat und seinen Fans.