Kein Vergessen – Redebeitrag zum 40. Jahrestag des Anschlags auf das Liverpool

Am 7. Januar 2024 jährte sich der rechtsterroristische Anschlag auf das Liverpool zum 40. Mal. Zum ersten Mal übernahm die Stadt die Organisation der Gedenkfeier, wir haben uns jedoch mit einem Redebeitrag daran beteiligt. Diesen möchten wir hier teilen.

Wir gedenken heute Corinna Tartarotti, den Betroffenen des Anschlags auf das Liverpool vor 40 Jahren und allen Opfern der rechtsterroristischen Mord- und Anschlagsserie der „Gruppe Ludwig“ und möchten unseren Redebeitrag mit dem Verlesen, der uns bekannten Opfern beginnen:

Wir gedenken Guerrino Spinelli, einem 33-jährigen Sinto, der am 25. August 1977 in Verona in seinem Auto schlafend mit Molotov-Cocktails angegriffen wurde und eine Woche später seinen schweren Verletzungen erlag.

Wir gedenken Luciano Stefanato, einem homosexuellen Kellner, der am 19. Dezember 1978 in Padua mit Messerstichen getötet wurde.

Wir gedenken Claudio Costa, einem 22-jährigen Homosexuellen, der am 12. Dezember 1979 erstochen in Venedig aufgefunden wurde.

Wir gedenken der 51-jährigen Sexarbeiterin Alice Maria Beretta, die am 20. Dezember 1980 in Vicenza erschlagen wurde.

Wir gedenken dem Studenten Luca Martinotti, der am 24. Mai 1981 einem Brandanschlag in Verona zum Opfer fiel.

Wir gedenken der beiden Mönche Mario Lovato und  Giovanni Pigato, die am 20. Juli 1982 in Vicenza erschlagen wurden. Mario Lovato wurde 71, Giovanni Pigato 69 Jahre alt.

Wir gedenken dem 71-jährigen Priester Armando Bison, der am 20. Februar 1983 in Trient erschlagen wurde.

Wir gedenken Giorgio Fronza, Ernesto Mauri, Pasquale Esposito, Elio Molteni und Domenico La Sala, die am 14. Mai 1983 bei einem Brandanschlag auf das Kino „Eros“ in Mailand ums Leben kamen und dem 46-jährigen Livio Ceresoli, der den im Kino eingeschlossenen Menschen zur Hilfe kommen wollte und selbst zum Opfer wurde.

Und wir gedenken Corinna Tartarotti, die hier in der Schillerstraße im ehemaligen Club Liverpool in München so schwere Verletzungen erlitt, dass sie drei Monate später, am 27. April 1984 starb. Sie wurde 20 Jahre alt.

Wir sind heute hier, um uns an sie zu erinnern.

Corinna Tartarotti kannten wir zu ihren Lebzeiten nicht. Wir lernten sie in unserem politischen Kampf gegen das Vergessen kennen. Als antisexistische und antifaschistische Gruppe, der es ein großes Anliegen ist, die Taten der extremen Rechten niemals zu vergessen und ihrer Opfer zu gedenken, setzten wir uns 2019 das Ziel, den Anschlag in der Schillerstraße in das öffentliche Gedächtnis zurückzubringen. Wir begannen mit der Recherche, veröffentlichten Texte und veranstalteten eine jährliche Gedenkkundgebung hier vor dem ehemaligen Club Liverpool. Damals wurde uns schmerzlich bewusst, dass in unserer Stadt kaum jemand der Tat der „Gruppe Ludwig“ gedachte – lediglich der Münchner Journalist Robert Andreasch recherchierte zu jenem Zeitpunkt zu diesem Anschlag und identifizierte ihn als rechts. In der Zwischenzeit konnte Kontakt mit Angehörigen aufgenommen werden, die hier heute auch anwesend sind. Das Grab von Corinna konnte bis mindestens 2032 gesichert werden. Dieses Jahr übernimmt die Landeshauptstadt München die Gedenkfeier, was wir ausdrücklich begrüßen. Trotzdem bleibt es unsere Aufgabe als Antifaschist*innen aufmerksam zu sein, kritisch zu hinterfragen und den extra Schritt zu gehen. Es gilt Gesellschaftskritik zu üben und zu analysieren, wie diese menschenverachtende Gewalt entstehen kann.

Corinna Tartarotti musste sterben, weil sie nicht in das Weltbild rechtsextremer Menschen passte. Die Beschäftigung mit ihr und das Kennenlernen ihrer Person gab uns Kraft, hinzuschauen. Es gab uns Kraft, für die Sichtbarmachung der rechtsterroristischen Mord- und Anschlagsserie einzutreten und menschenverachtenden Strukturen und Ideologien den Kampf anzusagen.

Der Mord an Corinna Tartarotti ist Teil der feigen Mord- und Anschlagsserie der „Gruppe Ludwig“, die viele verletzte und traumatisierte und in einer langen Liste von rechtem Terror steht. Für uns ist es wichtig, den Mord an Corinna Tartarotti in das große Ganze einzuordnen: Rechter Hass führt weltweit zu Toten. Allein in München lässt sich leider eine traurig lange Liste an Opfern und Betroffenen von rechtem Terror auflisten: das Oktoberfest-Attentat, die NSU Morde und das OEZ-Attentat – und das sind nur die bekanntesten Fälle.

Erst wenn wir nicht mehr von Einzelfällen sprechen, sondern den Fokus auf die Zusammenhänge legen, werden unseres Erachtens sinnvolle Lösungsansätze und ein Blick ermöglicht, der die Gesamtgesellschaft in die Verantwortung nimmt. Rechtsextreme Taten finden nicht im luftleeren Raum statt, sondern werden durch Ungleichwertigkeitsstrukturen in der Gesamtgesellschaft erst ermöglicht. Unwidersprochener Rassismus, Sexismus, Antisemitismus, Hass gegen LGBTIQ- Menschen, die Abwertung von Behinderten und Obdachlosen im alltäglichen Umgang miteinander, sind die Grundpfeiler für rechten Terror.

So ordnen wir aus heutiger Perspektive die neofaschistische „Gruppe Ludwig“ auch als eine männerbündische Gemeinschaft ein, in der soldatische Männlichkeit als Ideal galt, in der Männer die Elite der Gesellschaft darstellten und die eine ridige Sexualmoral vertraten. Sie, die Weibliches mit Schwäche verbanden und daher verachteten, sahen sich zu Höherem berufen. Mit dem Ziel, eine vermeintlich natürliche Ordnung wiederherzustellen, ermordeten sie jene, die sie für den imaginierten moralischen Verfall und Unreinheit in der Gesellschaft verantwortlich machten. Wir können und werden die Mord- und Anschlagsserie der „Gruppe Ludwig“ nicht ad acta legen, weil dieses Welt- und Menschenbild bis heute in weiten Teilen unserer patriarchalen Gesellschaft vorherrscht. Rechtsextremer oder religiös motivierter Terror ist nur der letzte Schritt in einer meist langen Radikalisierungsgeschichte. Antifeministische und misogyne Ressentiments spielen dabei eine maßgebliche Rolle – diese müssen dringend besser analysiert und gesellschaftlich anerkannt und AkteurInnen wirksam bekämpft werden.

Uns war immer wichtig auch die Opfer, die Betroffenen und Geschichten von weiteren rechtsextremen Taten sichtbar zu machen. Deshalb gedenken wir heute auch an Oury Jalloh, der am 7. Januar 2005 in Polizeigewahrsam ermordet und verbrannt wurde. Die beiden faktisch unterschiedlichen Gewalttaten zeigen, dass rechte Ideologien ihren Ausdruck in verschiedenen Formen finden.

Neben dem Blick auf Corinna Tartarotti und ihre Geschichte ist es unsere Aufgabe, der Opfern rechten Terrors solidarisch zu gedenken und diesen gesellschaftskritisch zu analysieren. Wir müssen alltägliche Diskriminierung, Ausgrenzung und Hass, die rechte Terroranschläge erst ermöglichen, als strukturelle Gegebenheiten benennen, um diesen entgegen treten zu können.

Um dies zu tun, braucht es solidarische Bündnisse. Dass Sie und Ihr heute gekommen seid, zeigt, dass es diese gibt und weiterhin geben kann. Vielen Dank dass ihr heute hier seid!